War for Talent – der Kampf um die Besten

Als ich seinerzeit die McKinsey-Studie „War for Talent“ von 1997 beziehungsweise 2001 deren zweiten Teil las, wurde mir bewusst, dass ein grundlegender Wandel auf dem Arbeitsmarkt in vollem Gange war. Mittelmässigkeit galt als verpönt, geschweige denn alles was darunter lag. Nur noch die besten Mitarbeiter mit klar überdurchschnittlichen Leistungen waren gefragt. Die Perfektionierung der Leistungsgesellschaft war zum Programm von Unternehmen geworden, die sich zu den weltbesten zählen wollten. Wer es wagte, dies kritisch zu hinterfragen, lief Gefahr, als Weichei und Leistungsverweigerer abgestempelt zu werden. Seither werden „Low Performers“ systematisch eruiert und ausgemustert. Nur die sogenannten „High Potentials“ und „High Performers“ sind gefragt. Doch, was geschieht mit den anderen? Haben sie ihre Existenzberechtigung in dieser Gesellschaft verloren?

Ein Krieg produziert nicht nur Gewinner sondern auch Verlierer

Der Kampf um die besten Arbeitskräfte und gegen das Mittelmass trägt nur scheinbar zu Qualitätssteigerung und Wirtschaftswachstum bei, hat aber schwerwiegende Konsequenzen für die Gesellschaft und entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als unsinnige Schaumschlägerei. Nicht nur, dass die Suche nach den Perlen auf dem Arbeitsmarkt mehr Aufwand für die Personalrekrutierung bedeutet, die gadenlose Selektion hinterlässt auch Verlierer. Sie sind nicht mehr gefragt, fühlen sich nutzlos und ihre Frustrationen nagen an ihrem Selbstwertgefühl. Damit verbunden steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr Selbstvertrauen und ihre Leistungsbereitschaft gänzlich verlieren und motivationslos zum Sozialfall werden. Die Kosten dafür darf der Rest der Gesellschaft tragen. Die Suizidraten in gewissen Branchen sind bereits alarmierend. Kann das alles wirklich Sinn und Zweck der ganzen Übung sein? Parallelen zur Finanzkrise sind nicht zufällig: Gewinne werden privatisiert und Verluste sozialisiert.

Das Paradoxon der Selbstkanibalisierung

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht mag die Rechnung für manch ein Unternehmen, das sich auf der Jagd nach Leistungsträgern als erfolgreich erwiesen hat, kurzfristig aufgehen. Doch langfristig wird sich dieser Erfolg an die volkswirtschaftliche Sicht angleichen, die eine Gesamtrechnung darstellt, welche die „Low Performers“ miteinschliesst. Der „War for Talent“ lässt hinsichtlich Nachhaltigkeit zu wünschen übrig. Er erweist sich auf lange Sicht sogar als paradox und selbstzerstörerisch. Wenn nur noch Überdurchschnittliches zählt und Unterdurchschnittliches eliminiert wird, wird die eine Hälfte des Überdurchschnittlichen wiederum zum nur Unterdurchschnittlichen, das dann der Logik folgend seinerseits eliminiert werden muss. Am Schluss bleibt eine Nullmenge übrig.

Natürliche Selektion

In der Menschheitsgeschichte gab es – und es ist noch gar nicht so lange her – so einen kleinen, grössenwahnsinnigen Gefreiten aus Linz mit einem schmalen Oberlippenbart, der nur die grossgewachsenen, blonden Arier als lebenswerte Subjekte betrachtete. Die anderen liess er systematisch in Konzentrationslagern vernichten und entzog ihnen ihre Existenzgrundlage. Gleiches geschieht seit gut zehn Jahren auch auf dem Arbeitsmarkt und auch der Lehrstellenmarkt hat sich längst diesem Trend angepasst. Genau betrachtet findet eine Art von Genozid statt, der gegen die Schächsten unserer Gesellschaft gerichtet ist und die Kluft zwischen Arm und Reich noch grösser werden lässt. Die Weltwirtschaftskrise trägt das ihre bei. Die Zahl der „Working Poors“ steigt und steigt, während die Vermögensakkumulation der Superreichen noch nie dagewesene Dimensionen annimmt. Was soll jemand tun, der zuwenig zum Leben aber zuviel zum Sterben hat?

Für viele ist es der reinste Überlebenskampf. Die meisten Hartz-4-Empfänger haben schon resigniert und suchen sich ihren eigenen Weg, auf dem sie sich irgendwie durchs Leben schummeln. Als „survival of the fittest“ (Überleben der Bestangepassten) würde dies der Evolutionstheoretiker Charles Darwin in Anlehnung an den Sozialphilosophen Herbert Spencer wohl bezeichnen. Doch ist diese Art der Selektion wirklich natürlich? Sie hat für mich etwas sehr Archaisch-Animalisches und Unchristliches an sich. Wer hier noch von „sozialer Marktwirtschaft“ zu sprechen vermag, hat sich offensichtlich noch nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht. Die Reife einer Gesellschaft lässt sich jeweils daran messen, wie sie mit den Schwächsten ihrer Mitglieder umgeht. Unsere Gesellschaft dürfte in dieser Hinsicht wohl keine Medaille gewinnen.

Werteverlust

Für das Rosinenpicken von Möchtegern-Vorzeigeunternehmen, die einzig von der Maximierung des Shareholder-Values getrieben werden und deren übertriebene Ansprüche als Arbeitgeber vor allem von den Verlierern als arrogant und realitätsfremd wahrgenommen werden, bezahlen wir als Gesellschaft einen hohen Preis. Galten noch vor zwanzig Jahren vor allem Finanzinstitute als besonders sozial, weil sie auch Teilinvaliden, sozial Schwächeren oder sonstwie Benachteiligten einen Job mit einem existenzsichernden Einkommen ermöglichten, indem sie als Materialwarte, Portiers von Backoffice-Gebäuden und interne Postverteiler beschäftigt wurden, entziehen sich diese Firmen zunehmend ihrer soziale Verantwortung und bürden die Last der Realwirtschaft und dem Staat auf. Da die Finanzwirtschaft das Komplement zur Realwirtschaft darstellt, kann man sie wohl als Irrealwirtschaft bezeichnen, was auch in der Realitätsferne ihres „Human Resource Management“ immer mehr zum Ausdruck kommt. Der Mensch ist nur noch eine Ressource und wie er behandelt wird, hängt ganz davon ab, welchen Gewinn er abwirft. Willkommen im kapitalistischen Neotaylorismus!

Es gibt allerdings auch löbliche Ausnahmen, die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollen. Es sind dies kleinere Finanzunternehmen, die noch nach gut-patriarchalischen Prinzipien als Familienunternehmen geführt werden. Doch wo Börsenkurse, Investoren und Spekulanten über Erfolg oder Niedergang eines Unternehmens entscheiden, hat soziale Verantwortung keinen Platz und wenn, dann nur als PR-Instrument und nicht aus Menschenfreundlichkeit.

Jeder kehre zuerst vor seiner eigenen Türe

Die Erwartungen an einen (künftigen) Arbeitnehmer sind hoch. Die meisten Unternehmen tun selber jedoch recht wenig, um für einen Kandidaten attraktiv zu erscheinen. Wer sich heute über ein Unternehmen als potentiellen Arbeitgeber erkundigt, tut dies zuerst einmal im Internet. Doch nur sehr selten findet er hier die Informationen, die er für einen Entscheid zugunsten einer Bewerbung sucht. Entweder findet er praktisch nichts für ihn Verwertbares oder dann ist die Selbstdarstellung des Unternehmens derart gekünstelt und übertrieben, dass sie nicht glaubwürdig und vertrauensbildend wirkt.

Willkommen in der Realität!

Trotz allen Bemühungen, nur die Talentiertesten zu gewinnen, sieht das Leistungsniveau in den meisten Unternehmen ernüchternd aus und die Gesamteffizienz lässt sehr zu wünschen übrig. Je mehr zur Steigerung von Qualität, Professionalität und Effizienz unternommen wird, desto grösser wird der Formalismus und der Apparat zur Selbstverwaltung. Vielleicht gelingt es eben doch nicht so richtig, die Talentiertesten zu gewinnen, oder es wurden die falschen Personen mit dieser Aufgabe betraut. In der Informatik wimmelt es nur so von Quereinsteigern mit entsprechendem Halbwissen und aus eben diesen Humanressourcen stammen auch jene, welche die gesuchten Talente auswählen und einstellen sollen. Nur erstens haben diese Leute ihre liebe Mühe, die wirklich qualifizierten Talente richtig zu beurteilen, und zweitens haben sie prinzipiell kein Interesse daran, irgendwelche Hochbegabten und Hyperintelligenten einzustellen, die ihnen am Stuhlbein sägen und ihrer eigenen Karriere ein ungewolltes Ende setzen könnten. So bleibt der Kampf um die Besten in der Realität mehrheitlich trotzdem nur ein Wunschgedanke genozidaler Überheblichkeit und eines realitätsfremden Leistungswahns, der von den wahren „Low Performern“ ad absurdum geführt wird.